Freie Universität Berlin

Fachbereich Altertumswissenschaften

Institut für Musikwissenschaft

 

Wintersemester 1996/97

 

Proseminar: Die Winterreise

Dr. Bodo Bischoff

 

 

Hausarbeit

Zur „Erstarrung“

und der Rolle des Baßmotivs aus dem Lied Nr.4

 

 

Peer Göbel

Juni 1997

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

0. Vorwort                                                                                               3

 

1. Gedichtanalyse                                                                                    4

 

2. Die Vertonung Schuberts                                                                      6

 

   2.1 Schuberts Änderungen am Text                                                        6

 

   2.2 Struktur und Teilanalyse                                                                   7

 

          2.2.1 Vorspiel                                                                                7

 

          2.2.2 1.Strophe                                                                              8

 

          2.2.3 2.Strophe und Zwischenspiel                                                  8

 

          2.2.4 3.Strophe                                                                              9

 

          2.2.5 Rückführung zur „Reprise“                                                    10

 

          2.2.6 4. und 5. Strophe                                                                 10

 

          2.2.7 Nachspiel                                                                            11

 

   2.3 Zum Liedtitel und zur Stellung in der „Winterreise“                            11

 

3. Bezüge innerhalb der „Winterreise“ zum Baßmotiv des Vorspiels 13

 

 

Quellen und Literatur                                                                              17

 


0. Vorwort

 

Das Gerüst dieser Hausarbeit besteht aus der schriftlichen Abfassung des Referats über das Lied Nr.4 der „Winterreise“, das ich im Seminar vorgestellt habe. Erweiternd habe ich im dritten Abschnitt das Baßmotiv aus dem Vorspiel der „Erstarrung“ erneut aufgegriffen und in seinen verschiedenen Formen durch den Zyklus verfolgt. Hierbei beziehe ich mich unter anderem auf die Analysemethoden Rudolph Rétis, mit denen ich mich im Wintersemester 1995/96 im Seminar „Methoden der musikalischen Analyse“ beschäftigte.

 

Zur Terminologie ist zu sagen, daß sich hier der Begriff „Strophen“ auf Müllers Strophengliederung bezieht, da die Stropheneinteilung bei Schubert nicht ganz eindeutig ist. Die Bezeichnung „Reprise“ ist nicht für einen Formteil im strengen Sinne einer Sonatenform gemeint, sondern als allgemeinmusikalisches Phänomen der Wiederaufnahme eines Themas.

 

Der Zyklus „Die Winterreise“ entstand 1827 nach den „Gedichten eines reisenden Waldhornisten“ von Wilhelm Müller. Nach Beethovens „An die ferne Geliebte“ und Schuberts „Die schöne Müllerin“ war es die dritte Liedersammlung in der übergreifenden Form eines Zyklus.

Unter dem Einfluß Beethovens Todes und dem eigenen Verfall der Gesundheit schuf Schubert sein letztes kompositorisches Werk, von dessen Größe er überzeugt war, auch wenn in seinem Freundeskreis die erste Reaktion aus Ablehnung, Unverständnis und geradezu Schrecken über die Ungeheuerlichkeit der Vertonung bestand.

Die „Erste Abteilung“ erschien schließlich am 14.1.1828, während das zweite Dutzend Lieder noch nach Korrekturen auf dem Totenbett nach dem Tode des Komponisten am 19.11.1828 im Dezember veröffentlicht wurde.


1. Gedichtanalyse

 

Die „Erstarrung“ steht als viertes Lied noch am Anfang der „Winterreise“. Der Protagonist steht ganz unter dem Einfluß des unerfüllten Liebesbildes, das er hinter sich lassen will. Nicht weit entfernt von der Stadt, die er verlassen hat, gelangt er an einen Ort, an dem er bereits mit seiner Angebeteten gewesen ist.

 

Das Gedicht „Erstarrung“ besteht aus fünf vierzeiligen Strophen, die einen  unterbrochenen Kreuzreim verwenden. Die Zeilen sind im dreihebigen Jambus geschrieben und besitzen abwechselnd weibliche bzw. männliche Endungen, daraus ergibt sich alternierend eine Silbenanzahl von 7 bzw. 6.

 

Die erste Strophe beschreibt einleitend die reale Situation: der Wanderer sucht im Schnee nach Fußspuren aus vergangener Zeit, was natürlich unmöglich ist, und er beginnt sich zu erinnern. Insofern ist schon die Ausgangssituation des Gedichtes vollkommen ausweglos.

Die zweite Strophe drückt in ihren irrealen Wünschen die Verzweiflung des Protagonisten aus. In allegorischer Übertreibung steigert er sich in dieses Bild hinein, das seine Konsequenz aus der ersten Strophe darstellt. Man kann sich den Suchenden wirklich vorstellen, wie er während dieser Worte im Schnee zu wühlen beginnt. Seine Sehnsucht steigert sich schon so weit, daß er den Boden als Vertreter seiner Angebeteten küssen will - ein Anzeichen beginnenden Wahnsinns.

In demselben halb realen, halb irrealen Traumbild entwickelt sich die dritte Strophe. Eine Frage impliziert die gleichzeitig fortgeführte Suche nach einem Andenken - in der Natur. Abwechselnd werden die bestimmenden Elemente in den Zeilen genannt: die Blumen und das Gras.

Der Protagonist wird plötzlich in die Realität zurückgeholt; in der vierten Strophe steht die Kernaussage des Gedichtes: sie besteht aus zwei rhetorischen Fragen, die eine Steigerung zu der einen Frage der dritten Strophe darstellen.

Die fünfte Strophe verarbeitet metaphorisch die Inhalte der vorhergehenden Strophe; es wird ein in sich geschlossenes Bild entworfen, das dem Gedicht auch seinen Titel gibt. Wie in der dritten Strophe sprechen die erste und dritte Zeile von dem einen zentralen Gegenstand, dem Herz, während die zweite und vierte von dem anderen bestimmenden Element der Strophe, dem Bild, handelt.

 


Wortfelder

 

Boden          Schnee                    Blüte

Erde             Eis                          Blumen

                                                     Gras                           Natur

                                                  Rasen

                                                  grüne Flur

 

Tränen          Herz erfroren Angedenken               Empfindungen

                    Schmerzen   

 

                    Bild                        Tritte Spur

 

 

Eine Auswertung des Textes nach Substantiven ergibt zwei Themengruppen. Auffällig ist der große Anteil der Naturelemente, die als Sinnbilder der romantischen Epoche vor allem metaphorische und allegorische Funktionen besitzen. Zwischen der zweiten Gruppe, den angesprochenen Empfindungen, und den Substantiven aus dem organischen Bereich lassen sich Parallelen ziehen, so daß nahezu alle Emotionen Gestalt in einem Naturbild finden.

 

Die besondere Wirkung der Bilder wird durch die Gegensätze erreicht: heiße Tränen vs. Eis und Schnee auf der elementaren Ebene; der Gegensatz der angenehmen Erinnerung zu den Schmerzen auf der Gefühlsebene, die in diesem Fall ineinander verwoben sind.


2. Die Vertonung Schuberts

2.1 Schuberts Änderungen am Text

 

Erstarrung[1]

 

Ich such’ im Schnee vergebens

nach ihrer Tritte Spur,

wo sie an meinem Arme

durchstrich die grüne Flur.

Ich such’ im Schnee vergebens

nach ihrer Tritte Spur,

wo sie an meinem Arme

durchstrich die Grüne Flur.

 

Ich will den Boden küssen,

durchdringen Eis und Schnee

mit meinen heißen Tränen

bis ich die Erde, die Erde seh’.

Ich will den Boden küssen,

durchdringen Eis und Schnee

mit meinen heißen Tränen

bis ich die Erde, die Erde seh’.

 

Wo find’ ich eine Blüte,

wo find’ ich grünes Gras?

Die Blumen sind erstorben,

der Rasen sieht so blaß,

die Blumen sind erstorben,

der Rasen sieht so blaß.

Wo find’ ich eine Blüte,

wo find’ ich grünes Gras?

 

Soll denn kein Angedenken

ich nehmen mit von hier?

Wenn meine Schmerzen schweigen,

wer sagt mir dann von ihr?

Soll denn kein Angedenken

ich nehmen mit von hier?

Wenn meine Schmerzen schweigen,

wer sagt mir dann von ihr?

 

Mein Herz ist wie erstorben [erfroren],

kalt starrt ihr Bild darin:

schmilzt je das Herz mir wieder,

fließt auch ihr [das] Bild, ihr Bild dahin.

Mein Herz ist wie erstorben,

kalt starrt ihr Bild darin:

schmilzt je das Herz mir wieder,

fließt auch ihr Bild, ihr Bild dahin,

ihr Bild dahin.

 

Die Wiederholung des Textes ist nach Peter Gülke einerseits als Interpretation Schuberts zu sehen[2] - hier als Suche mit dem Text wie die Suche des Wanderers nach Spuren oder im Sinne einer Erstarrung. Desweiteren erreicht der Komponist damit einen größeren Spielraum zur musikalischen Entwicklung, was auch dadurch gerechtfertigt wird, daß er denselben Text quasi zweimal musikalisch deutet.

Die Abwandlung des Reimschemas in der dritten Strophe spiegelt die Verzweiflung und Verwirrung des Protagonisten wider - der Sänger „durcheilt den Text ähnlich unrastig“[3] wie der Wanderer den Schnee und gerät in der 3. Strophe durcheinander.

 

Schubert ersetzt in der letzten Strophe Müllers „wie erfrorenes“ Herz durch ein „wie erstorbenes“, womit er das metaphorische Bild zerstört, denn ein totes Herz kann nicht wieder auftauen. Es scheint ihm wichtig gewesen zu sein, die Parallele zu den Blumen in der zweiten Strophe zu ziehen - die Blumen in ihrer Symbolik für die Liebe und das gesamte romantische Lebensgefühl, wie im „Frühlingstraum“, der „Schönen Müllerin“ oder auch bei Novalis oder Eichendorff.

Das Austauschen in der letzten Zeile von „das Bild“ bei Müller in „ihr Bild“ bei Schubert ist auch als Verstärkung des persönlichen Bezuges zu sehen, eventuell auch als Mittel zur Verbesserung des Kontextverständnis für den Zuhörer.

 

2.2 Struktur und Teilanalyse

 

Takte

1-7

8-23 24 25-44

45-47

48-63  64

65-80  81 82-103

103-109

Taktanzahl

7

16      1     20

3

16        1

16        1    20+2

7

Abschnitt

Vorspiel

1.Strophe 2.Str.

Zwischenspiel

3.Strophe

4.Str. 5.Strophe „Reprise“

Nachspiel

Beziehung

A

B

(A)

C

B

A

 

2.2.1 Vorspiel

 

Das Vorspiel gruppiert sich in drei Abschnitte, wovon die ersten beiden je zwei Takte umfassen, der dritte quasi als erweiterter Zweitakter drei Takte einnimmt.

In der rechten Hand liegen durchlaufende Achteltriolen, während die Baßlinie ein zweitaktiges rhythmisches Motiv vorstellt, das aus durchlaufenden Vierteln und einer Wechselnote auf der vierten Zählzeit des ersten Taktes in Form einer Achteltriole besteht.

Die ersten vier Takte lang erklingt in den Triolen durchgehend die Tonika c-Moll ohne Grundton, während die Baßphrase in der linken Hand ab der 4.Zählzeit des dritten Taktes um eine Sexte tiefer sequenziert wird. Ab Takt 5 wird die Baßlinie von der rechten Hand oktaviert, während das Baßmotiv auf der 4.Stufe erscheint. Für sechs Schläge gibt es einen Orgelpunkt auf C. Der dritte Abschnitt enthält außerdem in Takt 6 einen neapolitanischen Sext-“Akkord“[4] und ist um einen Takt erweitert, um durch den Dominant-Quart-Sext- und -Septakkord den Gesang einzuleiten. „Die Wirkung ist die eines Doppelpunkts vor dem Einsatz der Stimme, die innige Verbindung von Vorspiel und Strophe, von Begleigung und Gesang in einem Satz.“[5] Somit dient die Einleitung in ihrer harmonisch einfachen Anlage als Neapolitanerkadenz dazu, die rhythmischen Motive des Liedes einzuführen.[6]

 

Harmonischer Verlauf: c  f6  G7

 

2.2.2    1.Strophe

In der linken Hand wird das Kopfmotiv des Baßthemas aufgegriffen und variiert. Durch die eigenständige Führung der Baßmelodie kann man zusammen mit der Gesangsstimme „für weite Partien von Außenstimmen eines Satzes und vielleicht auch von Kontrapunkt“[7] sprechen. Die Oberstimme verwendet das Triolenmotiv aus dem Vorspiel, ebenso die Vorhaltbildung.

 

Harmonischer Verlauf im Tonartenkosmos[8]

 

B        g        G

 

Es      c        C

 

As      f         F

 

Schubert verwendet hier einfache Kadenzharmonik, die sich im engen Raum um die Tonika c-Moll bewegt.

 

Harmonischer Verlauf:

T. 8-11         c f G c

T.12-15        c f G c

T.16-19        hv c hv c

T.20-23        c dv Es As B Es

 

Beim Übergang zur 2.Strophe imitiert das Klavier in Takt 24 die Gesangsphrase aus Takt 22. Die dem Gesang zugrundeliegende Es-Dur-Kadenz wird im Moll-Gegenklang zu einer Neapolitanerkadenz: c-Moll mit as’ als Vorhalt, D-Dur und g-Moll.

 

2.2.3    2.Strophe

Die treibende Triolenbewegung wechselt hier in die Unterstimme und tritt in Form von gebrochenen Dreiklängen auf, während die rechte Hand die Singstimme in Oktaven kontrapunktisch ergänzt. So ergeben sich verschiedene Imitationen, der verminderte Dreiklang auf Fis in Takt 26/27, die Passage um den Hochton und der Vorhalt „Erde“ in Takt 32/33. Das folgende rhythmische Motiv der punktierten Viertel wird ebenso alterniert in Klavier und Gesang (Takte 35-37).

Der höchste Ton der Melodie ist das nach der Synkope in Takt 29 erscheinende as’’, entsprechend in Takt 39, 86 und 96. Es folgt eine Abwärtsbewegung über mehrere Takte, die sich erst nach dem Erreichen der None G’ wieder aufwärts wendet. Die gleichen Eigenschaften besitzt auch der Melodieverlauf nach dem Hochton des ersten Liedes der „Winterreise“, „Gute Nacht“. Diese Abwärtsbewegung wird, um zwei Schläge verzögert, im Klavier echoartig wiederholt.[9]

 

Harmonischer Verlauf im Tonartenkosmos

 

d        D

 

g        G

 

c        C

 

f         F

 

Harmonischer Verlauf:[10]

T.24-25 c6 D g

T.26-31 D7 g G7 c C7 f

T.32-38 G6 G7

T.38-41 G7 c C7 f

T.41-44             f G7 c

 

In Takt 26 setzt eine harmonische Quintschrittsequenz ein. Nach einem Aufenthalt im dominantischen Bereich wird diese Sequenz wiederum in Takt 38 angegangen. Der letzte Schritt nach f-Moll stellt zugleich den Beginn der Schlußkadenz der 2.Strophe dar.

 

Das Zwischenspiel greift auf das motivisch-thematische Material des Vorspiels zurück, verkürzt es allerdings auf drei Takte, um mit einer Kadenz nach As-Dur zu modulieren. Das Modulationsmodell nutzt die Doppeldeutigkeit des neapolitanischen Sextakkordes, der von f-Moll mit nichtaufgelöstem Sextvorhalt zur Subdominante Des-Dur umgedeutet wird.

 

Harmonischer Verlauf: T.44-47  c f6/Des Es7 As

 

2.2.4 3.Strophe

Die Klavierbegleitung stellt eine Synthese der beiden ersten Strophen dar; die Triolen der rechten Hand erklingen hier gleichzeitig mit den gebrochenen Dreiklängen der linken Hand. Lediglich die letzten fünf Takte des Mittelteils bereiten mit einer eigenständigen Baßlinie, die das Kopfmotiv des Vorspiels verarbeitet, die Rückführung zur Reprise vor.

Diese Strophe beginnt im Gegenklang zu c-Moll, As-Dur, das mit einer Kadenz als neue Tonika gefestigt wird.

 

Harmonischer Verlauf im Tonartenkosmos

 

B        g        G

 

Es      c        C

 

As      f         F

 

Des    b        B

 

Die Phrase ab Takt 52 entspricht im Klavier der Phrase ab Takt 56, die Gesangsstimme unterscheidet sich allerdings und vervollständigt die Harmonie einerseits zu einem F-Dur-Sept-Nonen-Akkord und andererseits einem verminderten Septakkord auf a. Die erste Phrase schließt elliptisch in der Mediante C-Dur, die zweite wie erwartet in As. In Takt 54 bzw. 58 ist der harmonische Tiefpunkt des Liedes mit der Wechselsubdominante b-Moll erreicht. Der Vorhalt auf „Gras“ erscheint beim zweiten Mal augmentiert.

 

Harmonischer Verlauf:

T.48-51 As Es7 As

T.52-55 F79 b Es7 C

T.56-59 F79 b Es7 As

T.60-64 G7

 

2.2.5 Rückführung zur „Reprise“

Die Umkehrung des Textes bei der Wiederholung in der 3.Strophe läßt den Mittelteil mit einer Frage schließen, dazu erklingt nahezu vier Takte lang die Dominante als liegende Harmonie, lediglich umspielt mit Vorhalten und einer kurz erscheinenden Zwischendominante (Takte 61-64) - es wird der Eindruck erweckt, daß die vierte Strophe die Antwort auf die verzweifelte Frage des Protagonisten enthalten würde; die Enttäuschung erscheint um so tiefer.

 

2.2.6 4. und 5. Strophe

Die Vertonung der 4. und 5. Strophe ist nahezu identisch mit der der ersten beiden Strophen. Harmonisch entsprechen sie sich ganz, daher verweise ich hier auf die harmonischen Ausführungen zu den Parallelpassagen. Melodisch sind lediglich einige rhythmische Verschiebungen der Melodie auszumachen: hinzugefügte Punktierungen in den Takten 65, 75 und 97; Änderungen der Vorschläge in den Takten 89 und 99 (hinzugefügt) und 83 (entfallend); das Variieren der Länge eines Tons durch Hinzufügen (Takt 93) und Herausnehmen (Takte 89 und 99) einer Viertelpause. Die einzige melodische Verschiebung erfolgt in Takt 85, indem ein d’’ an Stelle eines g’ erscheint. Diese Mittel dienen zur deutlicheren und farbigen Darstellung des Bekannten, insgesamt verändern sie den Charakter des Gesangs allerdings nicht.

Die Schlußkadenz ist um zwei Takte erweitert, statt der Auflösung in die Tonika erfolgt eine Schärfung der Dominante durch den verkürzten Dominantseptnonakkord (Dv).

 

2.2.7 Nachspiel

Der konkrete Zeitpunkt des Innehaltens wird wenige Takte vor Schluß erreicht - in Takt 103 bricht Schubert die durchlaufenden Triolen auf, so daß die Erstarrung mit dem letzten Ton des Gesangs erfolgt zu sein scheint.

Das Nachspiel entspricht in seiner Anlage der Einleitung, wendet sich allerdings mit einem geänderten Dreitakter als Schlußgruppe zum finalen c-Moll.

 

2.3 Zum Liedtitel und zur Stellung in der „Winterreise“

 

Peter Gülke spricht davon, daß für Schubert bei diesem Lied „nicht die Erstarrung (...) der Musik das Stichwort gibt“[11], nicht das erfrorene Herz ausschlaggebend für die Vertonung ist, sondern die unruhige Suche, der beginnende Wahnsinn des Wanderers. Die ostinat wirbelnde Bewegung der Triolen, die auch in die nächsten beiden Lieder noch übergreift, spiegelt eindeutig nicht die Erstarrung wider, sondern den inneren Antrieb des Fliehenden.

Das zunächst mit der Tempusbezeichnung „Nicht zu geschwind“ versehene Lied beschleunigt Schubert in der veröffentlichten Version mit einem „Ziemlich schnell“ - ein weiterer Hinweis auf die intendierte Grundstimmung.

In der Musik kann man jedoch auch Momente der Erstarrung ausmachen; so scheint schon in der Einleitung die Triolenbewegung bei gleichbleibender Harmonie auf der Stelle zu treten, ebenso in der 2. und 4. Strophe in den Takten 35-37 und 92-95. Fokussierungspunkt der Erstarrung ist Takt 103, in dem, wie bereits angesprochen, zum ersten und letzten Mal - vom Schlußakkord abgesehen - die durchlaufenden Triolen nicht erscheinen, sondern für einen Schlag ein c unisono erklingt.

 

Im Hinblick auf den Titel erschließt sich auch die musikalische Struktur der Vertonung. Die Symmetrie des Aufbaus läßt Schubert nach der hervorgehobenen dritten Strophe über die musikalische Wiederholung der ersten Großstrophe und des Vorspiels den Kreis zum Beginn des Liedes schließen, als ob sich keine Reaktion, keine Veränderung, keine Hoffnung ergeben hätte.

 

In der Winterreise bereitet die „Erstarrung“ den ersten Wendepunkt im gesamtharmonischen Verlauf vor. Die Tonarten der Lieder Nr.4 und Nr.5 sind im Quintenzirkel so weit voneinander entfernt wie keine anderen aufeinanderfolgenden im gesamten Zyklus.

 

 


Graphik: Tonartenkonstellation

 

1. Abteilung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

0

11

12

 

 

 

 

 

E

 

 

 

 

 

 

 

####

 

 

 

 

 

fis

 

 

 

 

A

 

###

 

 

 

 

 

 

 

 

h

 

 

 

##

 

 

 

 

 

 

e

 

 

 

 

 

#

 

a

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

d

 

 

 

 

 

 

 

 

d

 

d

b

 

 

 

 

 

 

 

g

 

 

 

 

bb

 

 

 

c

 

 

 

 

 

 

 

 

bbb

 

 

f

 

 

 

 

 

 

 

 

 

bbbb

Quelle:[12]

 

2. Abteilung

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

####

 

 

 

 

 

 

A

 

 

 

A

 

###

 

 

 

 

D

 

 

 

 

 

 

 

##

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

#

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

a

 

 

 

 

 

 

d

 

 

F

 

 

 

b

 

 

 

 

 

 

 

g

 

g

 

 

bb

Es

c

c

Es

 

 

 

 

 

 

 

 

bbb

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

bbbb

 

Sieben Quintschritte wären von c-Moll nach E-Dur erforderlich, es handelt sich um eine Mediantik 4.Grades.

 

Die Erstarrung ist das vierte Lied in einer Molltonart, läßt die Einfärbung damit schon fast bedrückend werden, bis im „Lindenbaum“ das erste vollständige Dur in der „Winterreise“ erscheint. Die Triolenbewegungen wirken noch in die folgenden Lieder hinüber; im „Lindenbaum“ in Form von Sechzehnteltriolen im Klavier und Achteltriolen im Gesang; in der „Wasserflut“ in Form des abgespaltenen Motivs aus der letzten Strophe des „Lindenbaums“, augmentiert in der Einleitung und vielfach in der gesamten Singstimme.

Ein weiteres melodisches Verbindungselement will ich im nächsten Abschnitt weiter untersuchen.

 


3. Bezüge innerhalb der Winterreise zum Baßmotiv des Vorspiels

 

Der Beginn des Liedes Nr.4 läßt in liegender Harmonie die akzentuierte Baßmelodie klar hervortreten, die Taktart bleibt durch die vorgezogenen Betonungen unklar. Vom Verlauf der Phrase ließe sich auch ein Dreiertakt heraushören, auf dessen Grundlage dasselbe Motiv im „Lindenbaum“ erscheint.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Motiv besteht aus einer Wechselnote abwärts, einem Terzsprung aufwärts und abwärtsführenden Sekundschritten. Dieses Motiv der ersten sechs Schläge der „Erstarrung“ erscheint nicht nur im „Lindenbaum“ (hier allerdings in Dur), sondern auch in weiteren Liedern des Zyklus’:

 

Nr.1 „Gute Nacht“

 

 

 

 

 

 

Nr.8 „Rückblick“

 

 

 

 

 

 

Nr.19 „Täuschung“

 

 

 

 

 

 

und in Nr.15, der „Krähe“.

 

 

 

 

 

 

Hier in der eindeutigsten Verbindung zur „Erstarrung“ durch die gleiche Tonart, Tonqualität des Anfangs (Grundton), durch die thematische Bedeutung der Notenfolge und die durchlaufenden Triolen. Die Melodie wird nicht genau übernommen, die charakteristische Wechselsekunde abwärts und der Terzschritt mit abwärts folgender Linie lassen die Parallele jedoch eindeutig erkennen.

 

Erweitert man die Zugriffsweise auf die Phrasen im Sinne von Rudolph Réti[13]  um die extrahierten Rahmenmelodien mit leichten Abweichungen, so lassen sich weitere Beispiele der Verwendung dieses Baßmotivs finden.

„(...) [C]ompositions do not arise essentially from phrases, but from motifs. The phrases represent merely the characteristic outer shape which the motifs, these inner elements, assume from case to case.“[14]

 

Nr.2 „Die Wetterfahne“

 

 

 

 

 

 

Nr.3 „Gefrorne Tränen“

 

 

 

 

 

 

Réti führte mit seiner Analysemethode bei Beethovens c-Moll Sonate op.13 „Pathéthique“ nahezu alle melodischen Verläufe auf wenige „Prime Cells“ zurück.[15] Es ist einleuchtend, daß ein motivischer Gedanke auch in seinen musikalischen Umkehrungen derselbe bleibt. Beim Blick auf das Lied Nr.11 „Frühlingstraum“ zeigt sich eine Übereinstimmung des Kopfmotivs mit jenem behandelten Baßmotiv aus der „Erstarrung“.

Das „Erstarrungs“-Motiv besteht aus einer Wechselnote abwärts, einem Terzsprung aufwärts und nachfolgender Sekundbewegung abwärts. Im „Frühlingstraum“ erscheint diese musikalische Idee in Form einer Wechselnote aufwärts, einem Sechstsprung (komplementär zur Terz) und wiederum abwärts führenden Sekunden.

 

Nr.11 „Frühlingstraum“

 

 

 

 

 

 

Es ist keine Umkehrung im strengen Sinne, musikalisch ist der Zusammenhang jedoch gegeben. Die Krebsform des Motivs finden wir beispielsweise im „Wegweiser“ vor,

 

Nr.20 „Der Wegweiser“

 

 

 

 

 

 

beziehungsweise mit leichten Modifikationen ebenda und „Im Dorfe“.

 

 Nr.17 „Im Dorfe“

 

 

 

 

 

 

Nr.20 „Der Wegweiser“

 

 

 

 

 

 

Es ist denkbar, daß diese für Beethoven „typische“[16]  Kompositionsweise Schubert beeinflußte, insbesondere bei diesem Zyklus, der im Todesjahr und auch unter dem Eindruck des Verlustes desjenigen Komponisten stand, an dem sich Schubert sein Leben lang messen lassen mußte und selbst maß.

 

Die abwärtsführende Sekundbewegung von der Terz über einer Wechselnote verschmilzt im „Irrlicht“ zu einer Figur.

 

Nr.9 „Irrlicht“

 

 

 

 

 

 

Es ist die Meisterschaft großer Komponisten, das eng angelegte thematische Material in verschiedene Formen zu gießen. Das Ziel einer Komposition kann nicht sein, möglichst viele ausladende Melodien zu entwerfen, vielmehr ist das Konzept eines Werkes dann am schlüssigsten, wenn es sich aus der Reduzierung auf wenige Motive ableiten läßt. Dieses Entstehen aus einem Kontext heraus, dieses „Einheit-Schaffen“[17], konnte Schubert, ob nun bewußt oder unterbewußt, wie Réti es nennt, „consciously and subconsciously“[18], in der Winterreise vollbringen.

 

Einige der Beispiele zeigen zugegebenermaßen eher interpretierbare als eindeutige Übereinstimmungen, doch das Erscheinen des Motivs in verschiedener Gestalt an solch zentralen und exponierten Positionen wie in der „Erstarrung“, im „Lindenbaum“, im „Frühlingstraum“ und der „Krähe“ zeigen auf, daß intendierte Parallelen nicht von der Hand zu weisen sind.


Quellen und Literatur

Feil, Arnold: Franz Schubert - Die schöne Müllerin, Winterreise. - Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1975

Goldschmidt, Harry: Das Wort in instrumentaler Musik: Die Ritornelle in Schuberts Winterreise. - Hamburg: von Bockel, 1996

Gülke, Peter: Franz Schubert und seine Zeit. - Regensburg: Laaber, 1991

Klein, Rudolf: Rudolph Retis Erkenntnisse der thematischen Prozesse in der Musik, in: Österreichische Musik Zeitschrift 9 (1981), S.465-469

Réti, Rudolph: Thematic Patterns in Sonatas of Beethoven. - London: Faber, 1967

Schwarmuth, Erdmute: Musikalischer Bau und Sprachverteilung in Schuberts Liedern. - Tutzing: Hans Schneider Verlag, 1969

 

Notenbeispiele aus Schubert, Franz: Schubert Lieder, Neue Ausgabe, Band I, Hohe Stimme, hrsg. von Dietrich Fischer-Dieskau und Elmar Budde. - Frankfurt, Leipzig, London, New York: Edition Peters

 



[1] Kursiv gedruckt die Wiederholungen und Änderungen Schuberts, in eckigen Klammern das Original von Müller.

[2] P. Gülke, Franz Schubert und seine Zeit, Köln 1991, S.250.

[3] ebda.

[4] Der neapolitanische Sextakkord oder „Neapolitaner“ ist eigentlich ein Vorhaltsklang, der allerdings in der Regel nicht aufgelöst wird, und so Eigenständigkeit in seiner elliptischen Funktion erlangte. Die verminderte Sexte schärft dabei den Zug zur Tonika. In der Klassik wurde der „Neapolitaner“ vor allem als „Todesakkord“ und für Passagen größter Trauer verwandt, auch für Szenen in der Welt der Toten.

[5] A. Feil, Franz Schubert - Die schöne Müllerin, Winterreise, Stuttgart 1975, S.110.

[6] Vgl. E. Schwarmath, Musikalischer Bau und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, Köln 1969, S.123/135.

[7] A. Feil, Franz Schubert - Die schöne Müllerin, Winterreise, Stuttgart 1975, S.109.

[8] Hierbei verwende ich die im Seminar angewandte Methode nach Gottfried Weber: Versuch einer geordneten Theorie der Tonsezkunst zum Selbstunterricht, mit Anmerkungen für Gelehrtere. - Mainz: B.Schott, 1821.

[9] nach A.Feil, Franz Schubert - Die schöne Müllerin, Winterreise, Stuttgart 1975, S.112f.

[10] Die verminderten Septakkorde sind zugunsten der Transparenz der Kadenzverläufe vernachlässigt.

[11] P. Gülke, Franz Schubert und seine Zeit, Köln 1991, S.249.

[12] ebda. S.251.

[13] Rudolph Réti, 1885-1957, in Serbien geboren, war Musikpädagoge, Verlagsangestellter und Komponist, lebte ab seiner Schulzeit in Wien, wo er die Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (1922) mitbegründete. Seine zentralen Werke „Thematic Process in Music“ (1951) und „Patterns in Sonatas of Beethoven“ (1966), die er nach seiner Emigration während des Nationalsozialismus in die USA schrieb, beeinflußten viele Musiktheoretiker der Gegenwart.

[14] R. Réti, Patterns in Sonatas of Beethoven, London 1966, S.88.

[15] Vgl. ebda.

[16] R. Klein, Rudolph Retis Erkenntsnisse der thematischen Prozesse in der Musik, in: Österreichische Musik Zeitschrift, Wien 9/81, S.469.

[17] ebda.

[18] R. Réti, Patterns in Sonatas of Beethoven, London 1967, S.94.