Meine Erinnerungen an Wilton Park 1947

Alfred Wegewitz

Bewerbung:

In der „Wochenpost - Zeitung für Kriegsgefangene“ fand ich Informationen über die Kurse des Lagers Wilton Park und bewarb mich. Da aber als Voraussetzung eine Heimatadresse in einer der drei Westzonen genannt wurde, musste ich schummeln. Ich gab die Anschrift meiner Tante in der Eifel an und wurde zu meiner großen Freude eingeladen.

Anreise:

Mit einem englischen uniformierten Soldaten als persönlichen Bewacher (bzw.Begleiter?) fuhr ich per Bahn aus Schottland über London nach Beaconsfield. Das Abenteuer, mit diesem sympathischen Soldaten, der die Situation ebenfalls als eigenartig empfand, in London innerhalb der sich drängenden Menschenmengen von einer U-Bahn-Station zur anderen zu ziehen, ist mir noch in guter Erinnerung.

Camp:

Wilton Park erschien mir im Verhältnis zu meinen bisherigen Lagern landschaftlich besonders schön situiert und angenehm klein. Wir etwa 250 Männer des Lehrgangs, die aus allen Teilen des Landes zusammengezogen worden waren, fühlten uns eher als Gäste in einer Erholungseinrichtung denn als Kriegsgefangene. Wir trafen auch etwa 20-30 Zivilisten aus Deutschland an, die von Parteien in der ehem. Britischen Besatzungszone delegiert worden waren. Sogar zwei SED-Mitglieder, also Kommunisten aus Berlin-Spandau, waren gekommen, die sich jedoch merklich zurück hielten. Der "Kalte Krieg" zeigte schon seine Auswirkungen. Dennoch war ihre Anwesenheit irgendwie ein Zeichen des Demokratieverständnisses der Engländer.

Organisation:

Es wurden Klassen bzw. Seminargruppen von etwa 20-25 Mann gebildet, die jeweils von einem englischen Zivilisten als Tutor betreut wurden. Zur Klasse gehörten auch immer 2-3 deutsche Zivilisten. Die Klassen hatten dann einen regelrechten Unterrichtsbetrieb in Form von Vorlesungen von Dozenten mit Universitätshintergrund. Zumeist waren dies deutsche jüdische Emigranten. Die Palette der Themen war sehr weit; u.a.:

Neben dem normalen Unterrichtsbetrieb gab es an den Abenden oft Vorträge englischer Persönlichkeiten für die interessierten Kursusteilnehmer. Ich erinnere mich an den MP Gordon Walker, den Verleger Victor Gollancz u.a.m. An ihre Vorträge schlossen sich zumeist heiße Diskussionen an. Hier erlebten wir wirkliche Demokratie.

Mehrmals kamen auch junge Wissenschaftler von den Universitäten Oxford und Cambridge, die uns als Mitglieder der dortigen Debattierclubs Mut machten, sich an dem politischen Diskurs zu beteiligen. Einer von ihnen, der einige Zeit als Offizier bei den Besatzungstruppen in Deutschland gedient hatte, brachte ganz neue, für uns überraschende deutsche Redewendungen mit: So warf er einem Diskussionsredner aus unseren Reihen scherzhaft an den Kopf: „Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank!“ und klärte nach dem großen Gelächter darüber auf, woher er diese Redewendung und andere hatte.

(BTW (by the way) verbindet mich mit Victor Gollancz noch folgendes kleines Vorkommnis: Er strollte lässig mit einer riesigen Havanna im Mund (nach Art von Winston Churchill) durch die Lagerstraße und lies das nur angerauchte gute Stück - sicher unabsichtlich - genau dort fallen, wo ich stand. Es gelang mir, den Apparat unauffällig in meiner Tasche verschwinden zu lassen. Als Nichtraucher war ich zwar persönlich an der Zigarre uninteressiert, hatte aber plötzlich unter den Rauchern besonders gute Freunde.)

Meine Erfahrungen:

Wie die Mehrzahl der Kursteilnehmer kam ich als wissensdurstiger, aufgeschlossener junger Mensch nach Wilton Park. Mich hatte die Nazi-Ideologie auch vor dem Kriegsende nicht in ihren Bann gezogen, da meine katholische (Mutter) und sozialdemokratische (Vater) Prägung dies verhinderte. (Ich habe z.B. bei der Vereidigung als Soldat im September 1945 weder die Schwurhand gehoben noch den Eid auf A.H. gesprochen, weil ich Skrupel hatte, mich durch einen Eid zu binden.)

Deshalb war Wilton-Park für mich nicht so sehr „Umerziehung“ (Reeducation), sondern der Erwerb von Wissen über die menschliche Gesellschaft und eine demokratische Zukunft, das mir in dieser fundierten Form bisher nicht zugängig gewesen war. Meine Zuneigung für Großbritannien, die ohnehin schon stark war, weil ich eigentlich nur positive Erlebnisse von Beginn der Gefangenschaft an hatte, steigerte sich, je mehr ich von den demokratischen Verhältnissen durch lebende Beispiele kennen lernen durfte. Ich betrachte Wilton-Park als meine erste Universität, wenn es leider nur eine sehr kurze Zeit der Lehre war.

Randerscheinungen:

Von Wilton-Park aus konnte ich zweimal London besuchen. Einmal im PKW eines englischen Offiziers, der mich und andere mitnahm, als er einen Auftrag in London zu erledigen hatte. U.a. wurde uns die Fleetstreet, der Sitz der Zeitungsmacher gezeigt.

Am Pfingstmontag fuhr ich allein per Bahn in Zivilkleidung, die ich mir bereits in Schottland in einem Second-Hand Shop erworben hatte, nach London und besichtigte die Nationalgalerie, die Tate-Galerie und andere Sehenswürdigkeiten. In Schottland hatte ich mir durch Gelegenheitsarbeiten etwas Geld für diesen Ausflug verdient.

Auch Schloss Windsor - etwa 15 km von Wilton-Park entfernt, besuchte ich allein. Ich stellte mich in aller Frühe an die Landstraße und zeigte mit dem Daumen an, wohin ich wollte. Ein PKW mit einem jungen Fahrer hielt und nahm mich mit, als ich mein Reiseziel genannt hatte. Als ich ihm auf seine Frage hin sagte, dass ich ein deutscher POW wäre und als Angehöriger einer Fallschirmjägerdivision in Gefangenschaft geraten sei, erzählte er, dass er ebenfalls bei im Krieg in einer Luftwaffeneinheit als Mitglied einer Bomberbesatzung gedient hätte. Wir verdammten dann beide den Krieg und versicherten uns gegenseitig, dass Engländer und Deutsche nunmehr friedlich zusammen leben sollten. Nachdem ich ihm meine Besichtigungsabsicht in Windsor erzählt hatte, bot er an, mich auch wieder auf dem Rückweg mitzunehmen. Er sei Ingenieur in einer chemischen Fabrik in Slough, in Sichtweite des Schlosses. Wenn ich um 17.00 Uhr vor dem Fabriktor, wo er mich dann absetzte, wieder einfinden würde, könnte ich erneut zusteigen. So geschah es dann auch.

Wenn ich diese Episode so ausführlich schildere, dann, weil ich während meiner Jahre in England derartiges öfter erlebt habe. Diese Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft mir gegenüber, der ja eigentlich, wenn man einige damalige Presseorgane las, zu einer Nation gehörte, die verabscheuungswürdig war, ist mir unvergesslich und eine Quelle meiner Zuneigung für die Menschen in Großbritannien.

Vor Schloss Windsor stand ein uniformierter Einlassbeamter. Ich sagte ihm, dass ich gern eine Besichtigung machen möchte, aber kaum dafür Geld hätte, da ich ein deutscher Kriegsgefangener sei. Er schaute mich groß an, dann platzte er auf Deutsch heraus: „Stacheldraht, Dörrgemüse, Sauerkraut“ und erzählte mir dann auf Englisch, dass er im ersten Weltkrieg in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen sei. Diese Worte wären noch in seinem Gedächtnis haften geblieben. Er hätte es aber nicht schlecht gehabt. Schließlich kamen wir überein, dass jeder „gottverdammte“ Krieg überflüssig sei. Nach einem kurzen Blick rechts und links schob er mich in eine Touristengruppe, mit der ich dann fast 2 Stunden lang in aller Ruhe das Schloss besichtigen konnte.

Auch diese kleine Anekdote gibt Zeugnis davon, wie Menschen im persönlichen Kontakt alle sog. Feindbilder der Medien unbeachtlich finden.