Stimmen aus England

Werner Hennemann. Aus: "Rundblick". Lagerzeitung Camp 230, No. 14 vom 28.06.1947

22 Meilen von London liegt in der Nähe der kleinen Stadt Beaconsfield das P.W. Camp 3000, genannt Wilton Park.

Hier in Wilton Park treffen sich 250 deutsche Kriegsgefangene aus England, Schottland und Middle East, zu einem sechswöchigen Lehrgng. Neuerdings nehmen auch jeweils fünfzig Zivilisten aus Deutschland teil. Die P.W.-Studenten und Zivilstudenten leben in diesem Lager unter gleichen Lebensbedingungen. Einige Abweichungen gibt es natürlich, die man ja auch schliesslich keinem Zivilisten streitig machen kann. Wilton Park hat einen englischen Lagerkommandanten und eine Lehrgangsleitung. Für die, die es noch nicht wissen sollten, sei gesagt, es gibt dort Befehle und Anordnungen, denen Folge geleistet werden muss. Natürlich hatten wir auch Ausgang. Die fünf Meilenzone gilt genau so, wie die Rückkehr um 22 Uhr. (…)

Der Lehrplan

Die Lehrgangseilnehmer werde von vierzehn Klassen erfasst. Jede Klasse hat einen Totur (Klassenlehrer) [Tippfehler im Original], der versucht allen Wünschen seiner Schüler gerecht zu werden und der stets bemüht ist, mit seiner Klasse einen sehr engen und offenen Kontakt zu haben. (…) Jeder Klasse werden einige Zivilstudenten zugeteilt. Der Unterrichtstag beginnt mit dem Tutorial. Das ist eine Diskussionsstunde, in der die Studenten das Thema und den Stoff selbst wählen. Z.B. die Verstaatlichung der englischen Kohlebergwerke, englisches Recht, die Unabhängigkeit der Dominien, das Palästinaproblem oder auch Fragen wie: "Stimmt es, dass der 'Daily Express' in den Jahren 1935/36 dem Nationalsozialismus sehr freundlich gegenüber eingestellt war?"; "Glauben Sie an eine Rückgabe der deutschen Ostgebiete?"; "Kann man die Vereinigten Staaten von Europa auch ohne Russland errichten?" usw. Die Diskussionen über die Fragen betr. Deutschland wurden durch die Anwesenheit der Zivilstudenten und deren offene und freie Beantwortung in ein sehr objektives Licht gerückt. Hier wurde u.a. besprochen: Ob Deutschland ein Zentralisierter- oder Bundesstaat werden soll, die neuen deutschen Parteien und ihre Ziele, Entnazifizierung, Jugendamnestie, die Einstufung der Kriegsgegangenen in politische Gruppen, das Hochschulwesen, augenblickliche Arbeitsmöglichkeiten, was erwartet den P.O.W. bei seiner Rückkehr in Deutschland? usw.

Die einzelnen Klassen werden von mehreren Dozenten besucht, die in sechs Vorlesungen ihre Themen behandeln. Wir haben die Vorträge nicht nur angehört, sondern nach jedem Vortrag gab es reichliche Gelegenheit, Fragen zu stellen und sich an den darauffolgenden Diskussionen, die [Zeile nicht lesbar] beteiligen. Bei den Dozenten selbst handelt es sich um anerkannte Koryphäen der verschiedensten Gebiete. Aus ihren Vorlesungen habe ich den Eindruck gewonnen, dass Wilton Park nicht der Schulungsort für zukünftige politische Grössen in Deutschland ist und ebenfalls wird dort auch nicht der Versuch unternommen, den Studenten Doktrien einzuimpfen, um ihnen zu lernen, wie ein guter Demokrat handeln und denken muss. Die einzelnen Vorlesungen der Dozenten befassten sich eingehend damit:

Probleme der Welternährung, Wirtschaftsgeschichte, Bismarck, Nürnberger Prozess, das Dritte Reich, Weimarer Republik, englisches Leben, Internationale Bürgerkunde und Individuum im Staat.

Gäste in Wilton Park

An verschiedenen Abenden der Woche besuchten den neunten Lehrgang führenden Männer und Frauen, die aktiv im englischen Leben stehen. Soweit sie nicht die deutsche Sprache beherrschten, wurde ihre Referate fortlaufend einwandfrei übersetzt. Der Rektor von Wilton Park Dr. Heinz Koeppler, stellt den Stunden die Gästen vor und ist somit auch der Vermittler zwischen den Lehrgangsteilnehmern und den Gastvorlesungen. Rektor Dr. Heinz Koeppler wird von den Studenten sehr geschätzt und auch er versucht den Wünschen der Lehrgangsteilnehmer gerecht zu werden. Wir hörten in Wilton Park Lord Lindsay, mehrere Professoren aus der Schweiz, verschiedene Unterhausabgeordnete und viele weitere interessante Erscheinungen aus dem öffentlichen Leben Englands, darunter Victor Galanez, den Herausgeber des bekannten Buches "In darkest Germany".

In der Diskussion brachte ich bei den Unterhausabgeordneten Mr. P. Gordon Walker (Labour) und bei dem Permanent Secretary to Ministry of Works, Mr. H.C. Emmerson die Arbeitsbedingungen der deutsche Kriegsgefangenen des Lagers 230 am Loch Sloy-Projekt zur Sprache. Wie der Rektor an einem Abend sagte, sind Probleme, die von den Studenten, im Beisein von Unterhausabgeordneten, zur Sprache gebracht wurden, bisher noch nicht im Sande verlaufen. Hoffen wir, dass dieses die letzte Vorstufe zur Bezahlung der Regenstunden in den schottischen Bergen gewesen ist.

Begegnungen mit deutschen Zivilisten

Die Zivilisten aus Deutschland, wie auch wir Kriegsgefangenen haben uns manche Vorstellungen darüber gemacht, wie wohl das erste Zusammentreffen mit unseren Landsleuten sich vollziehen wird. Und ich muss sagen, es kam alles anders, als man sich vorgestellt hatte. Von der ersten Stunde des Zusammenlebens war ein wirklich herzlicher Kontakt vorhanden. Da die P.O.W's in der Mehrzahl waren, wurden unsere Landsleute an unserem langjährigen Gefangenendasein äusserst stark interessiert. An verschiedenen Abenden veranstalteten die Lehrgangsteilnehmer aus Deutschland einen Brains Trust. Dieser Brains Trust wurde von verschiedenen Gruppen, je nach Länder der britischen Zone und eine Gruppe Berlinern, gebildet. Ein solcher Abend dehnte sich meistens über mehrere Stunden aus und die Diskussionen werden sehr spannend. Unter den Zivilstudenten befanden sich mehrere Journalisten, darunter der Chefredakteur der ersten deutschen Nachkriegszeitung "Aachener Nachrichten", Hermann Schäfer. Neben den Vertretern von Schulen, Betriebsräten, Gewerkschaften, Parteien und anderen öffentlichen Stellen, möchte ich noch den Chefdramaturg des Nordwestdeutschen Rundfunks, G. Ernst Schnabel nennen. In ihrer Freizeit stellten sich unsere deutschen Freunde den Kriegsgefangenen zu weiteren Unterhaltungen zur Verfügung und wir schilderten ihnen eingehend das Leben der deutschen Kriegsgefangenen in Grossbritannien. Am 9. Juni gaben 250 P.O.W.'s ihnen die besten Grüsse für die Heimat mit auf den Weg.

Nach meinem Besuch in Wilton Park habe ich nur den Wunsch, dass noch recht viele Angehörige unseres Lagers die Gelegenheit haben, Wilton Park mit seinen Vielseitigkeiten und seiner wirklich fairen Behandlung kennenzulernen.