Lernfähig werden für den Prozeß Europa.

Die Briten wehren nicht nur dem Ärger ihrer Partner, sondern auch dem "Schattenspiel" der Gemeinschaft / 40. Konferenz in Wiston House

Von Karl-Heinz Withofs, Allgemeine Zeitung, Ostern 1978

WISTON HOUSE. - Obwohl viele derzeit gar nicht zu viele Anzeichen dagegen sprechen, dass die Europäische Gemeinschaft weiter entwicklungsfähig ist, gibt es doch auch Signale - und nicht mal schwache – in die andere Richtung. (…)

Es gibt nicht wenige, die sich in ihrer Orientierung nach Europa für diesen Arbeitsstil entschieden haben. Und die Institutionen geformt haben, denen das Zueinander noch immer wichtiger ist als die Firmierung, die Europa titelhaft wie eine Krone trägt. Eine solche Institution, die es verdient, gerade zur Europa-Unzeit als in der Stille wirkende Sondierungs- Sammel- und "Wiederaufbereitungs"- Stätte genannt zu werden, haben wir in diesen Tagen aufgesucht: das Europäische Diskussionszentrum Wiston House in Steyning/Sussex. Als Teilnehmer der 40. Konferenz der EDC (European Discussion Centre), deren Thema "Die Europäische Gemeinschaft und die Supermächte") vor allem deshalb lockte, weil erwartet werden durfte, die oft kleinlich-nationalen Gegensätze- mit Verstrickungen in Haltungen und Mentalitäten- blieben angesichts wachsender Bedrohung (politisch-militärisch von der Sowjetunion, politisch-wirtschaftlich von den USA, rein wirtschaftlich von Japan und rein politisch von China her) vor der Tür.

Daß die über die Gemeinschaft hinausgehenden Sondierungen Partner wie Frondeure der EG im Vergleich zogen, diese als Antipoden zuweilen eher genau markierten als nur entlarvten, die Wichtigkeit oder "bloße" Bedeutung der Giganten für das Kräftespiel auch positiv anmerkten, dies alles hinderte die Konferenz nicht, das jeweilige Argument aus der Sicht des einzelnen Landes- und damit gleichwohl oft kontrovers untereinander – nicht nur zu formulieren, sondern auch zu vertreten. (…)

Diesmal halten sich unter den 15 Geladenen die Parlamentarier (je ein Belgier, Däne, Ire und drei Briten – zwei Labour, ein Konservativer) und die Größen aus dem militärischen Bereich (Planung, Forschung, Stäbe, Truppen) mit je sechs die Waage, letztere mit je einem aus Frankreich, Italien, den Niederlanden und drei aus Großbritannien, davon einer aus der NATO-Spitze. Die drei restlichen wirken in diesem Kreis von der Tätigkeit her wie Einzelgänger: Planungschef für Langzeit-Studien, Frankreich, Diplomat, Frankreich, Journalist (der verantwortliche Redakteur für Außenpolitik dieser Zeitung), Bundesrepublik Deutschland.

Die Auswahl ist nicht zufällig. Mitglieder des sogenannten Beratungsausschusses (die Londoner Botschafter aller EG-Mitgliedsstaaten und Vertreter verschiedener Gebiete des öffentlichen Lebens in Großbritannien) schlagen geeignete Teilnehmer in einer gesunden Mischung von Berufen vor, so dass neben führenden Persönlichkeiten aus dem politischen Leben- regional wie zentral- auch solche aus der Arbeiter- wie Arbeitnehmerschaft. Den Beamtenkreisen, dem Militär, dem Erziehungswesen, den Medien, den Kirchen und anderen Bereichen der Gesellschaft zusammengeführt werden. Es soll stets gewährleistet sein, dass die Teilnehmer verschiedene nationale, politische und berufliche Ansichten widerspiegeln. Die Einladungen zur Teilnahme an den EDC-Tagungen ergehen dann von den britischen Botschaftern bei den übrigen acht EG-Ländern und der Gemeinschaft in Brüssel.

Es ist überdeutlich, dass die Briten sie Hand ebenso auf wie über Wiston House halten. Aber nichts ist natürlicher als dies: das Europäische Diskussionszentrum teilt Wiston House mit Wilton Park, jener seit 1949 eingerichteten Konferenzphase von jährlich zehn Tagungen im Rahmen der OECD-Mitgliedsstaaten; an einer der grundlegenden Wilton-Park-Konferenzen in den sechziger Jahren nahm auch der Chefredakteur dieser Zeitung teil. Gleich im ersten Jahr der Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Gemeinschaft (1971 Eintritt, 1972 Unterzeichnung) rief die britische Regierung das ECD ins Leben, um führenden oder an ihrem Platz entscheidenden Menschen der verschiedenen Länder in Wiston House die Möglichkeit zu geben, vertraulich und auf persönlicher Basis in angenehmer Umgebung ihre Ansichten auszutauschen. (…)

Hier in Wiston House sind "neuralgische Punkte berührt worden, die im großen Europa bereits ein Mordio hervorgerufen haben – vornehmlich in Richtung Großbritannien. Der Prügelknabe der EG von heute quittiert die Verbitterung der Partner über die zunehmenden britischen Extratouren mit Gelassenheit, jedenfalls im Diskussionszentrum Wiston House. Statt dem spürbaren Misstrauen mit eigenen Attacken zu begegnen ("Dafür haben wir unseren Außenminister!"), klären die Briten etwas Wesentliches. Nicht zu Unrecht weisen sie darauf hin, dass die EG zu lange mit "Schattenspielen" sich zufriedengegeben hat. Und Aufbruch zum Realismus kann der Gemeinschaft nur nützen. Vor allem vor einer neuen Erweiterung.