Jugend will Bauen

Werner Hennemann. Aus: "Die Brücke" vom Mai/Juni 1947

Das Hauptthema derer, die sich kurz nach der Kapitulation an die junge Generation in Deutschland gewendet haben, lautete. "Wir werden euch zu friedliebenden und wahren Demokraten erziehen." Durch die vielen Betrachtungen, die von verschiedenen Seiten gegenueber der deutschen Jugend angestellt worden sind, wurde bei den Jugendlichen unwillkuerlich der Eindruck erweckt, als sei sie, die deutsche Jugend, fast allein schuldig an Deutschlands vergangenem, gegenwaertigem und zukuenftigem Elend, als muesse gerade die deutsche Jugend es darum besonders buessen, dass Hitler Deutschland in den Abgrund fuehren konnte. Man predigte, dass alles, was bisher geglaubt wurde, des Teufels sei. Die Demokratie wurde angepriesen, und man vergass dabei ganz, dass die Massnahmen, die im Interesse des Neuaufbaus der deutschen Wirtschaft und des oeffentlichen Lebens notwendig sind, und die sich in einem besetzten Lande nicht verhindern lassen, der Jugend sehr undemokratisch erscheinen muessen. Naturgemaess muss es der Jugend, der man zwoelf Jahre hindurch einen "deutschen Sozialismus" verkuendete, sehr unsozial erscheinen, wenn gerade sie in ihrem erlernten Beruf nicht eingesetzt werden kann. Man erwartete 1945- und das muss gesagt werden- von Deutschlands jungen Maennern, dass sie sich den Parteien anschliessen sollten, die Hitlers Aufstieg nicht entgegen setzen konnten, und die teilweise mit fast genauem Wortlaut die Parolen von vor 1933 wiederholten, ohne dabei gewillt zu sein, der Jugend einen groesseren Einfluss als bisher einzuraeumen.

Unser Fluch

Die Jugend hoerte von allen Seiten von dem Fluch, den sie in zwoelf Jahren durch die Entfremddung zwischen Alter und Jugend auf sich geladen habe, von dem Willen, dass jetzt alles anders werden muesse. Leider folgte diesem Willen, in den meisten Faellen nicht die Tat. Die Jugend dachte zurueck: Lieder erklangen, Menschen jubelten; 1933. Die Jugendlichen blickten zu den Erwachsenen auf und jubelten mit. "Das neue Reich", sagten die Erwachsenen. "Die Stimme des Volkes", sagten die Wahlen. "Mach mit", sagte der Schlag der jugendlichen Herzen. Man gab der Jugend Trommeln, und sagte: "Ihr trommelt fuer die neue Weltordnung!" und die Jugend machte mit, mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit, die eine Jugend aufbringen kann, aber auch mir der ganzen Vertrauensseligkeit, wie sie nur bei einer Jugend zu finden ist. Ein neues Reich war von den Erwachsenen gewaehlt und die Jugend verkoerperte die Wellen dieses unruhigen Meeres. Sicherlich war der groesste Teil der deutschen Jugend vom Nationalsozialismus erfasst. Dasselbe ist aber auch von einem Grossteil des ganzen deutschen Volkes zu sagen. Die deutsche Jugend kennt 1914/18, kennt die Bedingung der Jahre 1918/33 nur vom Erzaehlen. Sie hat keinen Einfluss auf die Entwicklung gehabt.

Wir warten

Dann kam der Krieg. Dieser Begriff jagte durch die Voelker der Erde und vor seiner Unbarmherzigkeit brachen die Hoffnungen und Illusionen der Jugend zusammen. Zwoelf Jahre: sie waren der Traum eines grossen Vertrauens und die Erkenntnis eines grossen Irrtums. Zwoelf Jugendjahre, die das Schoenste und Beste raubten. Wer gibt sie uns wieder? Keiner! Aber darauf warten wir auch nicht. Wir warten auf das Morgen, das uns die Verzweiflung an Vergangenheit und Gegenwart nimmt. Wir warten auf Hilfe und Vertrauen. Eine deutsche Zeitung befasste sich in einem Artikel mit den zurueckkehrenden Kriegsgefangenen, unter denen sich bekanntlich auch tausende Jugendlicher der Jahrgaenge 1919 und juenger befinden, und kam zu der Schlussfolgerung: "Sie koennen nicht mehr denken; gebt ihnen Arbeit, befehlt ihnen zu arbeiten; sie koennen nichts mehr tun ohne Befehl, aber dafuer tun sie auch alles auf Befehl" Wer die Gelegenheit hat, mit Kriegsgefangenen in Verbindung zu treten, wird die Feststellung machen, dass von keinem "sie koennen nicht mehr denken" keineswegs die Rede sein kann. Wuerde diese Feststellung den Tatsachen entsprechen, dann liefe in Wilton Park zur Zeit bestimmt nicht der neunte Kurs. - Wir wissen zwar, dass viele in die Heimat zurueckkehrende Kriegsgefangene ihre Ziele und Plaene fuer den Aufbau unter dem Druck der Nachkriegsbedingungen wie ein Kartenhaus zusammenfallen sehen.

Die deutsche Jugend ist skeptisch – und es ist traurig, von einer Skepsis der Jugend sprechen zu muessen. Wahrheit und Gerechtigkeit erscheinen der heutigen Jugend fast als unerreichbare Ideale. Daraus entsteht die Pflicht, der deutschen Jugend eine Moeglichkeit zu geben, sich im oeffentlichen Leben selbst zu behaupten, damit sie nicht mehr so verlassen und einsam flucht. Heute steht eine junge Generation vor der Gestaltung der Zukunft ihres Vaterlandes, die doch in erster Linie ihre Zukunft ist. Wir warten nicht auf Befehle, denn wir haben gelernt und erkannt: Demokratie ist keine Zuegellosigkeit. Eine junge Generation, deren politischer Instinkt durch furchtbare Enttaeuschungen und Leiden geschaerft worden ist, begehrt zu wissen, ob es ihr Schicksal sein soll, unter der Last einer schwere Mitschuld der Zukunft entgegenzustehen oder aber ob wir, endgueltig befreit von dieser seelischen Last, uns einem innerer und aeusseren Neuaufbau Deutschlands zuwenden duerfen.

Wir sind bereit! Und wir halten uns in Anbetracht der aeusserst ernsten Lage Deutschlands vor Augen, dass das, was man tut, nicht das wahrhaft Entscheidende ist. Ausschlaggebend ist das "Wie". Auch fuer die Persoenlichkeit hat jede sozial wichtige Arbeit einen unschaetzbaren Wert, vorausgesetzt, dass sie mit Liebe und Verstaendnis getan wird.