Dem Chefdramaturgen des Nordwestdeutschen Rundfunks G. Ernst Schnabel, wurden gelegentlich seines Aufenthaltes in Wilton Park von einem Kriegsgefangenen folgende drei Fragen gestellt:
-Haben Sie einen Unterschied zwischen den Jugendlichen in der englischen Gefangenschaft und denen in Deutschland festgestellt?
-Was an den Kriegsgefangenen in England hat Ihnen den grössten Eindruck gemacht?
-Haben Sie uns etwas über die Kriegsgefangenensendungen des Nordwestdeutschen Rundfunks zu sagen?
Er gab darauf die folgende Erwiderung:
Nun, Sie erlauben mir, dass ich die erste und die zweite Frage zusammen beantworte. Sie gehören zusammen, denn mir hat natürlich das an den Kriegsgefangenen in Wilton Park einen besonderen Eindruck gemacht, was sie von den Jugendlichen in Deutschland unterscheidet.
Sie wissen, dass in Wilton Park diskutiert wird. Das Diskutieren ist niemals eine von den Künsten und Beschäftigungen gewesen, die in Deutschland besonders gepflegt worden wäre. Soweit wir darin eine Tradition besassen, ist sie schon vor sehr, sehr langer Zeit gestorben. Wahrscheinlich hat uns dieser Umstand auch so sehr und so folgenschwer an einer wirklichen und breiten politischen Meinungsbildung in Deutschland gehindert. Ich meine damit natürlich nicht, dass es in Deutschland keine politischen Meinungen gegeben hätte. (…) Aber sie waren selten durch das Feuer einer gründlichen freien und fairen Diskussion gegangen.
Und nun, hier in Wilton Park wird diskutiert. Zwischen Engländern, deutschen Kriegsgefangenen und deutschen Zivilisten. Auch in Deutschland wird heute diskutiert. Überall. Aber diese Diskussionen in Wilton Park schienen mir in einem andern Klima stattzufinden, als eben die in Deutschland. Ich meine nicht die äusseren Umstände, sondern die seelische Verfassung der Diskutierenden. Der Ton und die Motivierungen waren in Wilton Park sachlicher, fairer und weniger zynisch. Und das war, meine ich wenigstens, ein Verdienst der Kriegsgefangenen vielfach. Wenn einer aus diesem Rahmen der fairen Auseinandersetzunge ausbrach, war es meistens einer von uns Zivilisten. So haben uns die Gefangenen denn auch mehr als einmal gesagt, sie verstünden uns nicht, unsere Methoden, die unserer Parteien und unserer Zeitungen. Das alles sei ihnen fern und fremd.
Es sei dahingestellt, wie Sie nun zu dieser guten Eigenschaft der Sachlichkeit und Toleranz gekommen sind. Sicherlich trägt auch das Land in dem Sie sich nun schon so lange aufhalten, die geistige Atmosphäre dieses Landes, dazu bei. Auf jeden Fall halte ich diese Ihre Eigenschaft für gut. Für sehr gut sogar. Sie werden sie nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland zu Ihrem eigenen und aller Nutzen brauchen können.
Und weiter ist mir aufgefallen, dass Sie sich vielleicht in einer Gefahr befinden, in einer inneren Gefahr. Ich habe mit vielen von Ihnen gesprochen. Die meisten hatten sehr bestimmt Vorstellungen über die Lage und die Lebensverhältnisse in Deutschland und zwar Vorstellungen, die der Wirklichkeit sehr nahe kamen. Aber nur sehr wenige schlossen aus diesen Vorstellungen. Man zeigte mir Briefe, in denen bereits entlassenen Kameraden an Sie geschrieben hatten, dass alles so wäre, wie sie es sich vorgestellt gehabt hätten, die Not, die Aussichtslosigkeit, der Mangel an jeder Konzeption, die wirklich zu brauchen wäre. Alles das habe man gewusst, und wenn man es nicht gewusst habe, weil es eben schlimmer wäre als man es sich habe vorstellen können, so habe man es geahnt. Aber unerwartet seien die Menschen, die Haltung der Menschen, ihre Hilflosigkeit, ihre Apathie, ihr Egoismus und der Verfall aller moralischer Werte.
-Nun, ich möchte hier nichts verteidigen, was man wirklich nicht gut finden und verteidigen kann. Ich möchte nur versuchen, Ihnen zu beweisen, dass zwar wir Deutschen in Deutschland versagt haben. Aber dass Ihre Kameraden uns nicht verstehen, liegt an ihnen selbst. Glauben Sie denn, alle diese Not, diese Hoffnungs- und Weglosigkeit ginge spurlos an den Menschen vorüber? Und schlimme Verhältnisse vermöchten nicht auch die Menschen schlimm zu machen? Und vor allem dann, wenn diese schlimmen Verhältnisse Jahre vorausgingen, die uns zur Menschlichkeit wahrhaftig nicht erzogen haben? Glauben Sie denn, der Mensch könne sich so ganz aus seiner Umwelt lösen und einfach sein, wie er wolle? Menschen, die so ausgeschöpft sind wie die in Deutschland, sind von sich aus nur schwer imstande, daran etwas zu ändern.
Sie wissen, wie es in Deutschland aussieht, und dennoch machen sich so viele von Ihnen noch Illusionen über "daheim" – über die Menschen "daheim". Denken Sie daran, bitte, dass Sie verglichen mit Millionen von diesen Menschen wenigstens in den letzten zwei Jahren ein sorgloses Dasein gehabt haben. Niemand neidet es Ihnen. Sie sind nicht zu beneiden, wahrhaftig nicht, am wenigstens diejenigen von Ihnen, die eine Familie in Deutschland haben, deren Sorge sie nicht mittragen helfen können. Aber hier habe Sie bei allem, was Ihnen fehlte, etwas gehabt, nämlich Ruhe, Essen, und die Gewissheit, dass der nächste Tag auch nicht schlimmer sein würde als der heutige. Ruhe hat in Deutschland keiner, satt zu essen mut wenige. Und die Angst vor dem Morgen, diese täglich neue Angst, ist das Schlimmste von allem geworden.
Wenn Sie nach Deutschland kommen, denken Die daran, dass Sie es sein werden, die den anderen etwas geben müssen. Und wenn es nur Ihre Kraft ist, die Sie so gerne schon früher für Ihre Heimat und Ihre Familien eingesetzt hätten.
Ich glaube sicher, dass sich nicht alle von Ihnen in der Gefahr befinden, von der Heimat enttäuscht zu werden. Sie müssen aber alle damit rechnen. Wie ich schon sagte: Es liegt bei Ihnen, ob die Enttäuschung kommen muss oder nicht. Denken Sie nicht nur an die Schwierigkeit der deutschen Situation sondern auch an die furchtbare, negative Kraft und Macht, die diese Schwierigkeit und Not auf Seelen ausüben kann. Rechnen Sie mit Enttäuschungen, dann werden Sie sie sicher überwinden. Es wird die Voraussetzung für Ihre persönliche Zukunft sein, ob Ihnen das gelingt. Gelingt es Ihnen aber, und gelingt Ihnen gar noch, das, was ich im ersten Teil meiner Antwort Ihre grosse und gute Eigenschaft nannte, zu Ihrem ganz festen Besitz zu machen, dann können Sie darauf bauen, dass diese Jahre Ihrer Gefangenschaft in England ganz sicher nicht die verlorenen Jahre Ihres Lebens sein werden. Und für Deutschland sind dann diese Jahre Ihrer Gefangenschaft auch nicht vergebens, sondern vielleicht ein Kraftzuwachs für die Zukunft.
Und nun zur dritten Frage: Da kann ich Ihnen nur sagen: Hören Sie uns zu. (…) Wir haben jetzt einen Kurzwellensender, der im 49 m-Band arbeitet und der – soweit wir bisher erfahren haben- auch in Schottland noch gut zu empfangen sein dürfte. Hören Sie uns zu, nicht nur den besonderen Kriegsgefangenensendungen, und schreiben Sie uns. (Ich hoffe, dass das Norfolk-House diese Briefe an uns weiterleiten wird). Sie müssen uns schreiben. Denn wenn wir unsere Sache schlecht machen- wie können wir sie besser machen, wenn niemand uns tadelt?
"Mein lieber Herr Hennemann,
Ich freue mich immer sehr, Ihren "Rundblick" zu erhalten, aber ich möchte Ihnen ganz besonders diesmal schreiben, um Ihnen fuer Ihre Weihnachtsnummer zu bedanken und Sie dazu zu beglueckwuenschen. Es ist eine wirklich beachtliche Produktion. Mit den besten Wuenschen fuer 1948 verbleibe ich,
Ihr alter Rektor
[Unterschrift]"